Prof. Rohrmann kritisiert Forschungsvorhaben: `Qualität der rechtlichen Betreuung´

Prof. Eckhard Rohrmann ist einer der bekanntesten und profiliertesten auf Behindertenpädagogik spezialisierten Hochschullehrer, der am Institut für Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität Marburg lehrt.

Er hat seine hier veröffentlichte Stellungnahme zur Umsetzung des Art. 12 der Behindertenrechts-konvention (BRK) sowie die damit korrespondierenden Artikel  in den Abschließenden Bemerkungen des UN-Fachausschuss für die BRK aktualisiert bzw. ergänzt. Wir berichteten über seine Stellungnahme hier. In seiner Aktualisierung kritisiert er anhand der zwei inzwischen veröffentlichten Zwischenberichte zurecht das Forschungsvorhaben: „Qualität der rechtlichen Betreuung“:

Ergänzungen im Juni 2017 
Das vom Bundesjustizministerium als Reaktion auf die Ausführungen des CRDP in seinen Abschließenden Bemerkungen zum 1. Staatenbericht der Bundesrepublik über die Umsetzung der UN-BRK ausgeschriebenen Forschungsvorhaben zum Thema „Qualität der rechtlichen Betreuung“ (siehe Fußnote 14 meiner Stellungnahme) wurde zwischenzeitlich an das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik GmbH (ISG) in Köln vergeben. Dieses hat mittlerweile zwei Zwischenberichte über die jeweils bis zur Veröffentlichung vorgenommenen Forschungsschritte und deren Ergebnisse vorgelegt (ISG 2016; ISG 2017). Einige Aspekte dieser Berichte sollen in diesen ergänzenden Anmerkungen zu meiner vorangegangenen Stellungnahme kommentiert werden.

Wie angesichts des an der eigentlichen Problemstellung vorbeigehenden Forschungsauftrages kaum anders zu erwarten, wurde auf die vom Komitee festgestellte

„Unvereinbarkeit des im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) festgelegten und geregelten Instruments der rechtlichen Betreuung mit dem Übereinkommen“ und die dringende Empfehlung, „alle Formen der ersetzten Entscheidung abzuschaffen und ein System der unterstützten Entscheidung an ihre Stelle treten zu lassen“ (CRPD 2015, Nr. 25, 26)

nicht eingegangen. Vielmehr konstatieren die Auftragnehmer des Projektes ganz im Sinne ihres Auftraggebers:

„Die Achtung des Willens und der Selbstbestimmung der betreuten Person wurde in Deutschland mit Einführung des Betreuungsrechts 1992 verpflichtendes und zentrales Element“ (ISG 2017, S. 2),

denn, so heißt es schon im 1. Zwischenbericht:

„Ein freier Wille (sei er aktuell oder früher geäußert) des Betreuten ist stets zu beachten, auch hat der Betreuer den Wünschen zu entsprechen, sofern diese dem Wohl des Betreuten nicht zuwiderlaufen“ (ISG 2016, S. 15, Hervorhebung ER).

Genau hier aber liegt der zentrale Dissens zwischen den Auffassungen des Auftragsgebers der vorliegenden Studie, welche sich der Auftraggeber zu eigen gemachen hat, auf der einen und des UN-CRDP auf der anderen Seite, das bereits in seinem General Comment zu Art. 12 der UN-BRK unmissverständlich klargestellt hat:

„Alle Formen der Unterstützung bei der Ausübung der rechtlichen Handlungsfähigkeit (einschließlich intensiverer Formen der Unterstützung) müssen auf dem Willen und den Präferenzen der betroffenen Person beruhen und nicht auf dem, was für ihr objektives Wohl erachtet wird“ (CRDP 2014, Nr. 29b, Hervorhebung ER).

Das soll an dieser Stelle nicht erneut vertieft werden. Hierzu wird auf die Ausführungen der voranstehenden Stellungnahme verwiesen. Diese Ergänzungen enthalten

  1. kritische Anmerkungen zur Anlage der bisher vorliegenden Untersuchungen und
  2. die Herausstellung eines bemerkenswerten, im zweiten Zwischenbericht dokumentierten Ergebnisses, welches die kritischen Äußerungen des UN-CRDP in seinen Abschließenden Bemerkungen in bedrückender Weise bestätigt, in seiner Tragweite allerdings nicht wirklich gewürdigt wird.

Ad 1: Anlage der bisher vorliegenden Untersuchungen
In der Ausschreibung wird das Ziel des genannten Forschungsvorhabens wie folgt beschrieben:

„Durch das Forschungsvorhaben sollen empirische Erkenntnisse darüber gewonnen werden, welche Qualitätsstandards in der Praxis eingehalten werden bzw. ob und ggf. welche strukturellen (einzelfallunabhängigen) Qualitätsdefizite insbesondere in der beruflichen aber auch in der ehrenamtlichen Betreuung bestehen und auf welche Ursachen diese ggf. zurückgeführt werden können … Zentrale Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Frage der Geeignetheit der Betreuerinnen und Betreuer zu“15.

Hinsichtlich der Methodik wird an

„breit angelegte(.) Befragungen der beteiligten Kreise (Betreute, Angehörige, Einrichtungsmitarbeiter und -mitarbeiterinnen, Betreuungsrichter und -richterinnen, Rechtspfleger und -pflegerinnen, Betreuungsbehörden und Betreuungsvereine)16

 gedacht. Bislang befragt wurden allerdings nur Berufsbetreuer(innen), ehrenamtlichen Betreuer(innen), Betreuungsgerichte (Gerichtsverwaltung, Richter[innen], Rechtspfleger[innen]), Betreuungsbehörden und Betreuungsvereine. Betreute, die in der Ausschreibung unter den zu befragenden Personenkreisen immerhin an erster Stelle genannt werden, wurden bislang hingegen noch nicht befragt. Zwar ist in einer noch ausstehenden dritten Projektphase die Durchführung qualitativer Fallstudien in 28 Regionen geplant, „in deren Rahmen Betreuer, Betreute und nahestehende Personen interviewt werden“ (ISG 2017, S. 4) sollen, doch erscheint es zumindest bemerkenswert, dass diejenigen, die von der gesetzlichen Betreuung am unmittelbarsten betroffen sind und von daher vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen die Qualität von gesetzlicher Betreuung vermutlich am besten beurteilen können, in den ersten Projektphasen bisher überhaupt noch nicht berücksichtigt worden sind. Es bleibt abzuwarten, welcher Stellenwert der Perspektive der Betroffenen im Abschlussbericht letztendlich beigemessen wird.

Ad 2: Mehrheitlich ersetzende statt unterstützende Entscheidungsfindung
Besondere Aufmerksamkeit verdient ein Ergebnis der Studie, weil es eindrucksvoll die Kritik des UN-CRDP bestätigt. Bei der Befragung der Betreuerinnen und Betreuer wurde diesen u. a. die folgende Frage gestellt:

„Sie kennen das Ziel, die Betreuten möglichst bei Ihrer eigenen Entscheidungsfindung zu unterstützen, anstatt ersetzende Entscheidungen zu treffen. Wir werden Ihnen jetzt einige Fragen zu diesem Themenkomplex stellen. Wie häufig können Sie im Arbeitsalltag mit Ihren Betreuten in einer Weise kommunizieren, die diese bei einer eigenen Entscheidungsfindung unterstützt?“ (ISG 2017, S. 76).

 Das grafisch aufgearbeitete Ergebnis der Antworten stellt sich wie folgt dar:

(ISG 2017, S. 76)

Immerhin 1% der Befragten gaben an, die Betreuten selten oder nie an bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen, selten 8% und manchmal 35%, das sind zusammen 44%. Oft, aber auch nicht immer, antworteten weitere 47%. 91% der befragten Betreuerinnen und Betreuer haben also angegeben, zumindest gelegentlich ersetzende statt unterstützende Entscheidungen zu treffen. Auch wenn diese Zahlen insofern zu relativieren sind, als 45% der befragten Betreuerinnen und Betreuer angegeben haben, auf Wunsch der Betreuten so entschieden zu haben17, belegt dieses Ergebnis doch sehr deutlich die von dem UN-CRDP beklagte „Unvereinbarkeit des im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) festgelegten und geregelten Instruments der rechtlichen Betreuung mit dem Übereinkommen“ (CRPD 2015, Nr. 25) nicht nur bezüglich der Rechtsnorm, sondern vor allem auch der Rechtspraxis.

Dem Justizministerium als Auftraggeber der vorliegenden Studie ist vor diesem Hintergrund dringend anzuraten, den Empfehlung des UN-CRDP zu folgen und alle ersetzenden Entscheidungen im Rahmen gesetzlicher Betreuungen sowie damit einhergehende Maßnahmen wie etwa Freiheitsentziehungen zu verbieten (CRDP 2015, Nr. 26, Nr. 30 und Nr. 34b) und bis dahin zumindest die Betreuungsstatistik dahingehend zu modifizieren, dass ersichtlich wird, wie viele der gesetzlichen Betreuungen gegen den erklärten, weil nicht als frei, sondern nur als natürlich deklarierten Willen der Betroffenen und mithin von vornherein ersetzend und nicht unterstützend, eingerichtet wurden und werden.