Zweiter offener Brief ans Bundesverfassungsgericht

coverBundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener e.V.

An den Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts
Postfach 1771
76006 Karlsruhe

Donnerstag, 5. November 2015

Sehr geehrte Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts,

inzwischen haben wir herausgefunden, dass weitere 4 Stellungnahmen zum Geschäftszeichen 1 BvL 8/15 im Internet veröffentlicht wurden:
Betreuungsgerichtstag
Bundesverband der Berufsbetreuer/innen
Deutscher Notarverein
Bundesrechtsanwaltskammer
Als Prämisse wird in diesen Stellungnahmen behauptet, dass eine Schutzpflicht des Staates Zwangsbehandlung Erwachsener unter bestimmten Bedingungen und gesetzlich normiert rechtfertigen könne. Dem hatten und haben wir immer widersprochen und durch die Behindertenrechtskonvention (BRK) ist dieser paternalistischen Form der „Fürsorge“ auch menschenrechtlich der Boden entzogen. Unsere Sicht wurde durch den Gesetzgeber durch das Patientenverfügungsgesetz § 1901a BGB von 2009 bestärkt. Mit großer Befriedigung haben wir deshalb 2011 den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Kenntnis genommen, mit dem klargestellt wurde, dass es seit Bestehen der Bundesrepublik keine gesetzliche Regelung der Zwangsbehandlung gab, die grundgesetz-konform und damit überhaupt legal gewesen wäre.

In dem Beschluss des Zweiten Senats vom 23. März 2011 – 2 BvR 882/09 – haben wir allerdings nur einen einzigen Rechtfertigungsgrund gefunden, der laut dieses Beschlusses für eine gesetzliche Regelung einer zu erduldenden Körperverletzung hinreichend wäre: wenn eine krankheitsbedingte Einwilligungsunfähigkeit den Betroffenen daran hindere, seine grundrechtlichen Belange insoweit wahrzunehmen, als es um die Wiedererlangung der Freiheit geht, auch wieder einwilligungsfähig zu werden. Weil der Betroffene insoweit hilfsbedürftig sei, dürfe der Staat – nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – in Grundrechte eingreifen. Daraus folgt, Zitat aus dem Beschluss:

b) Zur Rechtfertigung des Eingriffs kann aber das grundrechtlich geschützte Freiheitsinteresse des Untergebrachten selbst (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) geeignet sein, sofern der Untergebrachte zur Wahrnehmung dieses Interesses infolge krankheitsbedingter Einsichtsunfähigkeit nicht in der Lage ist….
…Ein Eingriff, der darauf zielt, die tatsächlichen Voraussetzungen freier Selbstbestimmung des Untergebrachten wiederherzustellen, kann unter diesen Umständen zulässig sein.

Wir teilen diese Freiheitskonzeption des BVerfG nicht, weil wir meinen, dass die subjektiven Gründe für ein „Nein“ zu einer Behandlung nicht durch eine Untersuchung auf eine „Krankheit“ objektiviert in Zweifel gezogen werden können. Ein Wille kann genauso wenig wie ein Witz „krank“ sein; in der Behauptung eines „kranken Witzes“ wird genau so bildlich gesprochen, wie wenn von einem „kranken Willen“ (= „Einwilligungsunfähigkeit“) aufgrund einer „psychischen Krankheit“ die Rede ist. Es ist Teil der Freiheit eines Menschen, dass dieser seine Freiheit nicht nutzt oder warum auch immer einschränkt, solange kein anderer Mensch diese Einschränkung verursacht hat, z.B. nötigt. Das wäre Zwangsausübung durch Andere, die der Zweite Senat u.U. für rechtfertigbar hielt, und das ist unserer Meinung nach in diesem Fall paradox und ein logischer Widerspruch in sich.

Auch wenn das BVerfG an einer angeblich diagnostrizierbaren psychischen Krankheit festhält, hat es aber die Möglichkeiten einer Zwangsbehandlung so eingeschränkt, dass nur die angebliche oder tatsächliche „psychische Krankheit“, die zu einer Einwilligungsunfähigkeit geführt hat, u.U. zwangsbehandelt werden dürfte, jedoch eine staatliche Schutzpflicht dafür kein Vorwand sein kann!

Damit geht einher, dass es keinen Versuch geben darf, eine nicht-psychische Krankheit, also z.B. eine Brustkrebserkrankung, mit einer Zwangsbehandlung heilen zu wollen, denn nicht-psychische Krankheiten können keine Symptome von „Einwilligungsunfähigkeit“ hervorrufen.
Bei einer brustkrebskranken Frau zu behaupten, sie wäre durch den Krebs einwilligungsunfähig, und dieser Krebs müsse soweit geheilt werden, dass sie wieder einwilligungsfähig werde, ist schon nach erstem Augenschein kein Grund für Zwangsbehandlung. Die Eingangsgerichte hätten also nicht wegen Nicht-Zwangseinweisungsfähigkeit der Betroffenen den Antrag der Betreuerin sofort ablehnen müssen, sondern weil es in diesem Fall nach der Rechtsprechung des BVerfG grundgesetzkonform überhaupt keine Rechtfertigungsmöglichkeit für die Zwangsbehandlung gibt. Das Verhindern der billigenden Inkaufnahme eines verfrühten Ablebens aufgrund eines unbehandelten Krebsleidens darf es auch bei einer angeblich „Geisteskranken“ nicht geben.

Für jede medizinische Behandlung muss die gleiche gesetzliche Schranke wie für jede Sterilisation gelten: sie darf nie gegen den erklärten Willen der Betroffenen vorgenommen werden. Dass es also trotz oder auch wegen des Vorlagebeschlusses des BGH unserer Meinung nach viele Gründe gibt, den 2013 neu geschaffenen § 1906 Abs. 3 BGB als unvereinbar mit dem Grundgesetz zu verwerfen, haben wir bereits verschiedentlich öffentlich gemacht.

Die fünf oben erwähnten Stellungnahmen sind deshalb unserer Ansicht nach kein Beitrag zur Klärung und Bewertung des Vorlagebeschlusses des BGH.