Tödliche Psychiatrie

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors Thomas Foth
Erstveröffentlichung des Artikels in ak 564 16. September 2011, Seite 27

Tödliche Psychiatrie

Auch nach dem NS-Faschismus wurden Kranke ermordet


In den Jahren 1939 bis 1945 wurden mehr als 200.000 Kranke in deutschen psychiatrischen Anstalten, Pflege- und Wohlfahrtseinrichtungen ermordet. Seit mehr als drei Jahrzehnten gibt es intensive Forschungen zu diesen Morden. Doch zumeist bleibt völlig außer Acht, dass Kranke sowohl vor der NS-Machtübernahme als auch nach Ende des zweiten Weltkriegs ermordet wurden, wie die hohen Mortalitätsraten der psychiatrischen Einrichtungen belegen.

Dieser Beitrag ist eine Aufforderung, den Fokus der Forschung zu erweitern: Weg von einer ausschließlichen Perspektive auf die „Euthanasie“- Morde hin zu einer Perspektive, die die Ermordung Kranker vor und nach dem Faschismus mit einschließt. Es geht darum, die Gründe für die Morde nicht nur in der spezifischen Konstellation des NSFaschismus zu suchen, sondern auch in der psychiatrischen Praxis als solcher. Auch wenn die Ermordung Kranker während des NS-Faschismus eine historische Singularität darstellt, die nicht relativiert werden darf.

Die Forschungen über die Mordaktionen während der NS-Zeit sind vielfältig und umfangreich, eine zusammenfassende Darstellung ist hier unmöglich. Dennoch zu einigen Punkten. Unstrittig ist, dass die Krankenmorde während des NSFaschismus nicht unabhängig von den Vernichtungsaktionen während des Holocausts verstanden werden können. So fand die systematische Tötungsaktion T4, benannt nach dem Sitz der zentralen Planungs- und Gutachterkommission in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, auf Hitlers Anordnung hin und mit der Unterstützung der einflussreichsten deutschen Psychiater vor Beginn des Holocausts statt, nämlich von 1939 bis 1941.

Die Erklärungsmodelle reichen nicht aus

Über ein ausgeklügeltes System von Zwischenanstalten und einer eigens hierfür gegründeten Transportgesellschaft wurden die selektionierten PatientInnen in speziell dafür konstruierte Vernichtungsanstalten verlegt und nach wenigen Tagen getötet. Dabei wurden Mittel zur Tötung – insbesondere Kohlenmonoxid in Gaskammern – erprobt, die später auch im Holocaust zum Einsatz kamen.

Insgesamt wurden mehr als 70.000 PatientInnen im Rahmen der Aktion T4 getötet, 1.000 bis 2.000 jüdische PatientInnen waren die ersten Opfer. Nachdem die Aktion in der Öffentlichkeit bekannt wurde, stoppte Hitler sie offiziell 1941. In der Aktion „Spezialbehandlung 14f3“, die auch nach dem offiziellen Ende von T4 weiterlief, wurden dann rund 20.000 InsassInnen aus Konzentrationslagern in den Tötungseinrichtungen der Aktion T4 ermordet. Schließlich wurden weitere 1.000 Menschen, die als kriminelle Geisteskranke klassifiziert und in psychiatrischen Anstalten interniert waren, Opfer des Programms „Vernichtung durch Arbeit“ in verschiedenen Konzentrationslagern.

Auch in den von der Deutschen Wehrmacht überfallenen und besetzten europäischen Ländern wurden so genannte psychisch Kranke ermordet. In Polen wurden mindestens 20.000 psychiatrische PatientInnen erschossen, vergast oder zu Tode gehungert. Das Land wurde zum Experimentierfeld für die Tötungsmethoden der Aktion T4. Der Historiker Heinz Faulstich geht davon aus, dass ca. 80.000 Menschen in Anstalten in Polen, der Sowjetunion und in Frankreich ermordet wurden. (1)

Nach dem offiziellen Stopp der so genannten „Euthanasie“-Aktion begann ein dezentralisiertes, stilles Morden in psychiatrischen Anstalten und Heimen – die sogenannte „zweite Phase“. PatientInnen wurden durch gezieltes Verhungern, Vergiften und Vernachlässigen umgebracht.

Das Ausmaß dieser Morde ist bis heute noch nicht vollständig erfasst. Seit Beginn der neueren Forschungen im Bereich der „Euthanasie“-Morde musste die Zahl der Opfer stetig nach oben korrigiert werden. Die neuesten Schätzungen gehen von 150.000 bis 200.000 Ermordeten aus, die zu den 70.200 Opfern der Aktion T4 hinzugezählt werden müssen.

Es herrscht Uneinigkeit darüber, ob diese Tötungen als Teil einer zentral organisierten Katastrophenpolitik anzusehen sind, unter anderem darauf angelegt, psychiatrische Betten für zivile Bombenopfer und verletzte Soldaten freizumachen, oder ob sie als relativ unabhängig von zentralen Planungen anzusehen sind, angetrieben von lokalen politischen Interessen. Ein Konsens scheint sich in der Forschung dahingehend zu bilden, diese Tötungen als eine Mischung aus beiden Aspekten zu verstehen.

Dennoch bleiben viele Fragen unbeantwortet. Dies betrifft die Tatsache, dass die Tötungen von Kranken schon sehr viel früher als mit der Aktion T4 begannen. Der Psychiater Paul Nitsche wandte schon im Sommer 1939 ein so genanntes „Luminalschema“ in sächsischen psychiatrischen Anstalten an. Es bestand kurz gesagt darin, PatientInnen durch die Kombination von Aushungern und gleichzeitiger Gabe von Luminal (einem Narkotikum) zu töten.

Nitsche, der ab November 1941 Leiter der Zentrale der Aktion T4 wurde, führte schon 1936 eine Sonderkost in den Psychiatrien Sachsens ein, die zur systematischen Unterernährung und zum Verhungern der Kranken führte. Der Historiker Götz Aly geht davon aus, dass die Tötungen bereits im Jahr 1938 begannen und belegt dies mit den ansteigenden Mortalitätsraten dieser Zeit. Aly sieht die Tötungen als praktische Vorläufer der Aktion T4, in der das Morden nur bürokratisch formalisiert wurde. (2)

Werden die steigenden Mortalitätsraten in psychiatrischen Anstalten als Maßstab für eine absichtliche Vernachlässigung von PatientInnen unter Inkaufnahme möglicher tödlicher Ausgänge genommen, dann kann man feststellen, dass ab 1936 in den meisten psychiatrischen Anstalten des Deutschen Reichs eine Zunahme von Todesfällen zu verzeichnen war. Sie können von der so genannten „Euthanasie“-Aktion nicht getrennt gesehen werden.

Aber was geschah in der Zeit vor 1933 und nach 1945? Die hohen Mortalitätsraten in psychiatrischen Anstalten und Einrichtungen der Wohlfahrtsbehörde vor und nach der Zeit des NS-Faschismus haben noch nicht in ausreichendem Maße die Beachtung der ForscherInnen gefunden. Nur Faulstich hat in seiner Studie versucht, diese Tötungen systematisch zu erfassen.

Tötungen vor der NS-Zeit

Der Grund für diesen „blinden Fleck“ ist meiner Meinung darin zu suchen, dass die verwendeten Erklärungsmodelle auf das spezifische Machtsystem des Nationalsozialismus fokussieren und die Tötungen von PatientInnen an die spezifischen Umstände binden, die unter dem NS-System bestanden. Diese Modelle können aber nicht erklären, dass Kranke faktisch während der gesamten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder Opfer von mehr oder weniger systematischen Vernichtungsaktionen wurden und dass diese Morde vornehmlich in den psychiatrischen Anstalten stattfanden.

Schon während des ersten Weltkriegs und in den Jahren danach fanden in Deutschland mehr als 70.000 psychiatrische PatientInnen den Tod durch Verhungern. Der Historiker Klaus Dörner führt diese Todesfälle auf eine beabsichtigte Verknappung von Nahrungsmitteln in den psychiatrischen Einrichtungen zurück. Die Methode sei während des zweiten Weltkriegs einfach nur kopiert worden. (3)

Auch während der Weimarer Republik endete das Sterben nicht. Die dramatische Zunahme der Mortalitätsraten während der Hyperinflation 1923 war nur die Spitze einer Hungersnot, die mit dem Waffenstillstand nicht beendet war. Psychiatrische PatientInnen waren in besonderem Maße betroffen, weil ein allgemeiner Konsensus zu bestehen schien, sie als legitime Opfer zu betrachten. Die ökonomische Krise, die nach dem Ende des Krieges weiter bestand, schien das Lebensrecht dieser Menschen außer Kraft zu setzen.

Faulstichs Studie belegt, dass das Töten auch nach Ende das zweiten Weltkriegs in den Einrichtungen aller vier Besatzungszonen weiter ging. Zumindest sind die hohen Mortalitätsraten nach Ende des Krieges erklärungsbedürftig. Obwohl Faulstich diese Todesfälle mit einem vermeidbaren Mangel an Nahrungsmitteln in Beziehung setzt, verwirft er die Vermutung, die Besatzungsmächte hätten den psychiatrischen PatientInnen vorsätzlich Nahrungsmittel vorenthalten. Er betont, dass die Verteilung der Nahrungsmittel unter die Zuständigkeit deutscher Autoritäten fiel.

Mein Forschungsprojekt versucht die Rolle von Pflegenden in der Ermordung von Kranken zu beleuchten. (4) Dazu habe ich die pflegerischen und psychiatrischen Aufzeichnungen in PatientInnenakten der damaligen „Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn“ in Hamburg diskursanalystisch untersucht. Meine Studie kommt zu dem Schluss, dass der NS-Faschismus als ein eklatantes Beispiel von „Biopolitik“ angesehen werden muss, ein Konzept das von Michel Foucault entwickelt wurde. Die Aufzeichnungen in den Akten zeigen, dass die Tötungen das Produkt wissenschaftlicher Klassifizierungen und Diskurse waren, die dazu führten, dass bestimmte Leben als „lebensunwert“ wahrgenommen wurden.

Bei der Analyse der Aufzeichnungen wurde außerdem deutlich, dass die Frage, warum die Morde so reibungslos in den psychiatrischen Alltag zu integrieren waren, nur beantwortet werden kann, wenn die Anstalten als Teil der psychiatrischen Praxis erfasst werden. Mit dem Begriff der Praxis ist gemeint, dass die Funktionsweise der Psychiatrie nicht allein durch die Analyse der ihr zugrundeliegenden wissenschaftlicher Theorien verstanden werden kann, sondern sie darüber hinaus in ihrer praktischen Umsetzung betrachtet werden muss.

Die Anstalt als permanenter Kriegsschauplatz

Diese disziplinarische Praxis basierte auf einer hierarchischen Machtstruktur mit dem Psychiater an der Spitze. Die Pflegenden, als delegierte RepräsentantInnen der Macht des Psychiaters, waren strategisch „unterhalb“ der PatientInnen positioniert. Sie schliefen beispielsweise oftmals in denselben Räumen wie die PatientInnen und nahmen ihre Mahlzeiten gemeinsam mit diesen ein. Diese Position ermöglichte es, die PatientInnen in jedem Detail zu erfassen. Es verlieh den Pflegenden letztlich die Macht, das Verhalten der PatientintInnen unter Zuhilfenahme einer Vielzahl von Techniken, wie z.B. Dauerbadbehandlungen, Isolierungen, Ganzkörperwickel, Medikamente etc., nachhaltig zu beeinflussen.

Die psychiatrische Anstalt kann metaphorisch als Maschine beschrieben werden, angetrieben vom allumfassenden Willen des Psychiaters: jeder Teil der Anstalt und jede Person, die in ihr arbeitete, funktionierte als Teil dieser „Heilungsmaschine“. Dieses strategische Machtungleichgewicht errichtete eine Realität innerhalb der Anstalt, die nichts mit der Realität der PatientInnen gemein hatte. Diese unüberwindbare, disziplinarische Macht der Psychiatrie konfrontierte die „absolute“ Macht der „Verrückten“. Absolut, weil die Kranken auf ihrer Realität beharrten und sich nicht durch Logik davon abbringen ließen, beispielsweise wenn sie behaupteten „jemand spricht zu mir“. Weil sie ihre eigenen Ansichten durchzusetzen versuchten, widersetzten sich die PatientInnen der Realität der Anstalt. Sie wurde zu einem Ort, in dem ein permanenter Krieg zwischen der disziplinarischen Macht der Psychiatrie und der absoluten Macht der Wahnsinnigen herrschte.

Gleichzeitig war die psychiatrische Praxis ein Mechanismus der Normalisierung, der kontinuierlich damit beschäftigt war, zu klassifizieren, was als „normales“ Verhalten bewertet werden konnte und wer als heilbar betrachtet werden konnte. In Hamburg beispielsweise war Langenhorn für PatientInnen vorbehalten, die als chronisch krank und unheilbar galten. Und innerhalb Langenhorns gab es noch einmal Bereiche für PatientInnen, die als „hoffnungslose“ Fälle galten. Faktisch waren diese PatientInnen selbst innerhalb der psychiatrischen Anstalt ausgeschlossen, sie vegetierten in Zonen der Unsichtbarkeit. Die Macht des Psychiaters wurde in diesen Zonen zu einer souveränen Macht, die Leben ausschließen konnte. PatientInnen in diesen Zonen waren auf ihr „nacktes Leben“ (Agamben) reduziert und lange vor der Machtübernahme der Nazis als „lebensunwert“ kategorisiert. Diese Menschen waren sozial tot, lange bevor sie physisch ermordet wurden.

Thomas Foth

Inf./Nurse, MScN, PhD
Professeur adjoint/Assistant Professor
Université d’Ottawa/Univer
sity of Ottawa
Faculté des sciences de la santé/Faculty of Health sciences
Écoles des sciences infirmières/School of Nursing
451 Smyth Road
Ottawa, Ontario, Canada K1H 8M5
613.562.5800(8435) (Phone), 613.562.5443 (Fax)


Anmerkungen:

1) Faulstich, Heinz: Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949. Freiburg im Breisgau 1998.  

2) Aly, Götz: Medicine Against the Useless. In: Ders./Chroust, P./Pross, C. (Hg.): Cleansing the Fatherland. Nazi Medicine and Racial Hygiene, Baltimore and London 1994.  

3) Dörner, Klaus: Tödliches Mitleid. In: SZ vom 12.8.06.  

4) Foth, Thomas: Analyzing Nursing as a Dispositif: Healing and Devastation in the Name of Biopower. A Historical, Biopolitical Analysis of Psychiatric Care under the Nazi Regime, 1933-1945. Thesis submitted to the School of Nursing, Faculty of Health Sciences (Ottawa, Kanada) for the degree of Doctor of Philosophy, 2011.