Dr. David Schneider-Addae-Mensah berichtet

Bericht über die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht
am 30. und 31.01.2018 zu 2 BvR 309/15 und
2 BvR 502/16

2 Verfassungsbeschwerden zu den Fragen, ob es mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und 3 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und 2 GG vereinbar ist, dass bei der öffentlich-rechtlichen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach dem bayerischen Gesetz über die Unterbringung psychisch Kranker und deren Betreuung (UnterbrG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. April 1992 (GVBl S. 60) keine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für die Fixierung existiert und weder nach dem bayerischen Unterbringungsgesetz noch nach dem baden-württembergischen Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKHG) vom 25. November 2014 (GBl S. 534) ein Richtervorbehalt für die Fixierung vorgesehen ist.

RA Dr. David Schneider-Addae-Mensah berichtet:
Zu Beginn der Verhandlung faßt Gerichtspräsident Voßkuhle die Problematik zusammen. Bei Fixierungen handle es sich um einen der intensivsten Grundrechtseingriffe.
Berichterstatterin und Verfassungsrichterin Doris König faßt zusammen: rund 17000 Fixierungen in Unterbringung habe es 2015 und 2016 in Baden-Württemberg gegeben. Sie spricht von einer „Freiheitsentziehung in der Freiheitsentziehung“.

Sodann beginnt die Expertenanhörung mit Ausführungen von Prof. Brieger, Ärztlicher Direktor des Isar-Amper-Klinikums (IAK) München. Er spricht von 8-9% Fixierungen auf die Gesamtzahl der erfolgenden Unterbringungen. Viele Fälle würden bereits von der Polizei fixiert und in diesem Zustand in die Einrichtungen des IAK gebracht. Er berichtet namentlich eine Verdreifachung an Fixierungen bei Asylbewerbern.
Brieger teilt die Fixierungsfälle in zwei große Blöcke:
• Fixierungen in der Gerontopsychiatrie und
• Fixierungen in der Allgemeinpsychiatrie
Er unterschied im wesentlichen die Drei-Punkt-, die Fünf-Punkt- und die Sieben-Punkt-Fixierung. In der Gerontopsychiatrie erfolgten regelmäßig Dreifach-Fixierungen, in der Allgemeinpsychiatrie tendentiell Fünffach-Fixierungen. Fixierungen gebe es aber auch in anderen Bereichen der Medizin, insbesondere in Notaufnahmen der allgemeinen Krankenhäuser.
Im IAK gebe es nicht unbedingt eine Sitzwache für den Fixierten, es könne auch eine Video-Überwachung sein.
Er stellt in Frage ob die Isolierung eine minderschwere Maßnahme darstellt. Da viele Patienten nicht über Fixierungsmaßnahmen sprächen, könne er diese Frage jedoch letztlich nicht beantworten.
Auf Frage des Gerichtspräsidenten teilt Brieger weiter mit, daß man insbesondere Drug-Consumer auch mit erhöhtem Personalbestand auch künftig bändigen werde müssen. Psychotiker, die seinen Einrichtungen zugeführt würden, hätten meist auch psychoaktive Substanzen konsumiert. Auf Frage der Berichterstatterin sagt er allerdings, daß man im Bereich „demenzerkrankter“ Personen bei höherem Personaleinsatz Fixierungen vermeiden könne. Auf weitere Frau von Richterin König teilt er mit, daß es im IAK Isolierräume aber auch die Möglichkeit der Abtrennung von Wachbereichen und eine Soteria gebe.
Auf Frage ob die Sieben-Punkt-Fixierung überhaupt erforderlich sei, teilt Brieger mit, er habe noch nie eine Sieben-Punkt-Fixierung gesehen. Zur Dauer und Erträglichkeit der Fixierung befragt teilt er mit, daß es insbesondere in der Gerontopsychiatrie dauerfixierte Personen gebe.
Auf Nachfrage von Verfassungsrichter Müller teilt Brieger mit, ein Richtervorbehalt habe keine bloß genehmigende, als nachträgliche, Wirkung. Insbesondere bei längeren Fixierungen könne er auch zur rechtlichen Absicherung der laufenden Fixierung erfolgen. In akuten Notsituationen mache ein Richtervorbehalt aber keinen Sinn, namentlich in nächtlichen Notsituationen. In sehr akuten Fällen wäre ein Richter, selbst wenn er auf dem Gelände stationiert wäre, nicht schnell genug verfügbar um eine Entscheidung zu treffen.
Er habe in Haar keinen Fall einer Akutschädigung fixierter Patienten erlebt. Die Notwendigkeit einer Fixierung werde stündlich überprüft.

Der zweite Experte, Tillmann Steinert, bejaht die Erforderlichkeit der Sieben-Punkt-Fixierung in seltenen Fällen, etwa wenn Patienten mit dem Fixierbett „hüpften“. Er hält eine 1 zu 1 – Überwachung für notwendig, auch zur Vermeidung des Verbrennungsrisikos. Auch hierdurch könnten Komplikationen, wie etwa eine Lungenthrombose, jedoch nicht ganz ausgeschlossen werden. In der Nachbetrachtung der Betroffenen schließe die Fixierung regelmäßig schlechter ab als die Isolierung. Die medikamentöse Ruhigstellung als Alternative würde nahezu eine Narkotisierung erfordern. Ruhigstellung sei keine Behandlung. Es gebe somit keine Ruhigstellung, die einer Fixierung gleichkommt. Entsprechende Beruhigungsmittel seien in Deutschland nicht zugelassen.
In den Niederlanden werde sehr viel Isoliert und wenig fixiert, so daß die Isolierungszahlen dort überdurchschnittlich hoch seien.
Bei der Fixierung sei eine medizinische Behandlung leichter als in einer Isolierung. Eine Sitzwache könne bei Fixierten die Maßnahme auch schneller wieder beenden als bei Isolierten.
In anderen Ländern gebe es teils weniger Fixierungen. In der Schweiz gebe es eine geringe Fixierkultur, in Island fast gar keine.
Isolierungen seien nicht generell der geringere Eingriff.

DGPPN-Präsident Deister sagt, die Psychiatrie sei sowohl ein Teil der Medizin als auch ein Teil der Ordnungspolitik. Er hält den Richtervorbehalt nur bei länger andauernden Fixierungen für sinnvoll. Auf Nachfrage, was in diesem Zusammenhang „lang“ sei antwortet Deister, er bemesse die Länge an einer Wiederholungsgefahr. Berichterstatterin König wendet ein, daß die Unterscheidung zwischen einer Akkutfixierung und einer langfristigen Fixierung schwierig sei.
Deister bemerkt auch, manche Betroffenen empfänden Sitzwachen als eingriffsintensivierend.

Der nächste Experte, Lepping, berichtet über die Fixierungspraxis in Großbritannien. Dort seien Fixierungen zwar nicht verboten, würden aber kaum praktiziert. Nur in drei Hochsicherheitseinrichtungen gebe es überhaupt eine Art Fixierung, die sich jedoch von der deutschen Art der Fixierung unterschieden. Es würden namentlich Fixierungen mithilfe von „Zwangsjacken“ durchgeführt.
Zunächst versuche man in Großbritannien zu deeskalieren. Dann versuche man mittels „körperlichem Halten“ die Situation in den Griff zu bekommen. Hierbei immobilisieren vier Leute die Person kurzfristig. Die Dauer des „Haltens“ betrage durchschnittlich zehn Minuten. In 25 bis 50% der Fälle werde parallel stofflich zwangsbehandelt.
Die Technik des Haltens an sich sei auch nicht risikofrei. Im medizinischen Setting seien zwar keine Todesfälle vorgekommen, wohl aber bei Polizei und Justiz. Bei Demenzkranken sei zudem das Sturzrisiko erhöht.
Wie in ca. der Hälfte aller EU-Mitgliedstaaten gebe es bei Aufnahme in die Psychiatrie keine richterliche Entscheidung. Es gebe lediglich sog. Tribunale, die mit Fachleuten, teils auch mit Juristen, besetzt seien. Ohnehin gebe es nie eine gerichtliche Überprüfung einzelner Zwangsmaßnahmen in England sondern stets nur die Überprüfung der Unterbringung selbst.
Auf Nachfrage der Berichterstatterin teilt Lepping mit, daß dem Betroffenen nach erfolgter Immobilisation relativ schnell intramuskulär ein „Beruhigungsmittel“ injeziert werde. Danach werde der Betroffene in einen Raum gebracht, in dem er müde werde. Widrigenfalls könne die Zwangsmedikation wiederholt werden.
Der Schutz des „Personals“ sei beim „Halten“ indes nicht so hoch wie bei einer Fixierung im deutschen Sinne. Mitunter müsse in „Extremsituationen“ die Polizei geholt werden, die den Betroffenen dann – mit der entsprechenden Verletzungsgefahr – in Polizeigewahrsam verbringe. Auf Nachfrage von Verfassungsrichter Müller teilt Lepping mit, daß Verletzungen des Personals beim „Halten“ extrem selten seien.

Der nächste Experte, Dr. Zinkler, Heidenheim/Brenz, teilte mir, daß es seit 2011 in seiner Klinik bei 1200 Patienten nur insgesamt 37 Fixierungen und eine Zwangsmedikation gegeben habe. Im Grundsatz gebe es dort keine Isolierungen und es gebe auch keine geschlossenen Stationen. Auch die erfolgten 37 Fixierungen hätten sich bei einem um 10% erhöhten Personal- bzw. Kostenschlüssel vermeiden lassen. [WFZ: siehe vollständige Dokumentation hier]

Matthias Seibt vom Bundesverband Psychiatrieerfahrener stellte die Zwangsfixierung aus Sicht der Betroffenen dar. Eine Fixierung werde von diesen oftmals als „Vergewaltigung“ empfunden. [WFZ: Die Argumentation ist bekannt und fällt deshalb nur kurz aus]

Für den Freistaat Bayern teilte Herr Stumpf am zweiten Verhandlungstag mit, daß ein Gesetzentwurf vorsehe, daß zumindest tagsüber eine zeitnahe richterliche Entscheidung herbeigeführt werden soll. Zur Nachtzeit sei dies aber nicht gewährleistbar. Auf Nachfrage von Verfassungsrichter Müller gab er weiter an, daß bei Erledigung der Fixierungsmaßnahme eine richterliche Entscheidung nur auf Antrag des Betroffenen erfolgen solle. Auch Nachfrage von Berichterstatterin König gab Stumpf an, daß es im neuen bayerischen Maßregelvollzugsgesetz mit dem Richtervorbehalt bislang nicht zu Problemen gekommen sei. Die Situation im Maßregelvollzug sei allerdings mit jener in der Allgemeinpsychiatrie nicht vergleichbar.

Der Präsident des Amtsgerichts Hannover, Wettig, berichtete von 300 Unterbringungen nach PsychKG und 700 nach Betreuungsrecht, davon rund 300 Fixierungen. Im Sprengel des AG Hannover gebe es vier psychiatrische Kliniken mit je einem bzw. zwei Richtern vor Ort. Wird eine Zwangsmaßnahme beantragt so erfolge dies tagsüber von 8 bis 15.30 Uhr durch das Gericht selbst, in den übrigen Zeiten stelle die Anstalt den Antrag. Es gebe einer richterlichen Wochenendbereitschaftsdienst und als Entschädigung für die Teilnehmenden eine 25prozentige Freistellung. Die Richter seien nicht über ein Mobiltelephon erreichbar. Nach Eingang des Antrags auf Zwangsmaßnahme via Telefax werde binnen 25 bis 40 Minuten entschieden.
Wettig betont, es dürfe nicht zu Kumpaneien zwischen Richtern und Psychiatern kommen.
Fixierungsanordnungen erfolgten meist bereits mit der Unterbringungsanordnung. Sie seien jedoch in der Regel befristet.
Eigentlich handle es sich hier auch nicht um einen „Vorbehalt“, da die Maßnahme bei Ergehen einer richterlichen Entscheidung regelmäßig bereits begonnen habe. Wettig spricht daher von einer „begleitenden Entscheidung“. Eine Fortsetzungsfeststellungsentscheidung von Amts wegen erfolge im Gerichtssprengel des AG Hannover nicht.
In Punkto Zwangsbehandlung spricht er von Schwierigkeiten rasch einen Gutachter zu erhalten. Wenn es nicht nur um Sedierung gehe könne der Dringlichkeit wegen mitunter ein Gutachten nicht abgewartet werden. Bei den Entscheidungen selbst komme es zu einer geringen Zahl von ablehnenden Entscheidungen. Meist würden Fixierungen unter Auflagen (etwa einer Sitzwache) oder befristet genehmigt. Auf Nachfrage von Verfassungsrichter Maidowski präzisiert Wettig, daß Sitzwachen kein Standard seien.
Auf dem Land funktioniere der Bereitschaftsdienst nicht.
Verfahrenspfleger kämen erst beim zuständigen Richter zum Zug. Der Betroffene sei bei seiner Erstanhörung daher regelmäßig ohne Rechtsanwalt.

Herr Ulbrich vom AG Rostock berichtet von 335 Unterbringungen nach PsychKG, ein- bis zweimal im Monat würden Zwangsbehandlungen beantragt. Von 7 bis 16.15 Uhr bestehe ein spezieller betreuungsrechtlicher Bereitschaftsdienst. Am Wochenende bestehe der allgemeine Bereitschaftsdienst des Amtsgerichts. Es gebe keine ständige richterliche Präsenz in psychiatrischen Einrichtungen des Gerichtssprengels. Ulbrich berichtet von maximal vier Unterbringungen pro Wochenende.
Die Rostocker Kliniken führten pro Jahr rund 400 Fixierungen auf geschlossenen Stationen durch.
Wenn eine Klinik einen Antrag auf Zwangsfixierung stelle, dann werde die Klinik durch den Richter angefahren, was ca. 15 Minuten dauere. Die Anhörung dauere dann 30 bis 60 Minuten.
Eine präventive Entscheidung, also ein echter Richtervorbehalt, wäre nur sehr schwer zu gewährleisten. Es müßten alle Richter mitmachen. Insbesondere an kleinen Amtsgerichten sei die Situation noch viel schwieriger als an großen.
Die Bearbeitungsdauer von Zwangsverfahren sei relativ hoch und betrage im Schnitt zwei Wochen.

Der Direktor des Amtsgerichts Bad Segeberg, Grothopp, der für den Deutschen Richterbund sprach, berichtete aus seinem Gerichtssprengel von einer relativ hohen Zahl an Unterbringungen, da es in Segeberg eine größere Psycho-Klinik gebe. Hinsichtlich Zwangsbehandlungen habe es 2013 eine Gesetzesänderung gegeben. Zwangsbehandlungen sollten in Schleswig-Holstein nicht nur auf § 34 StGB gestützt werden. Es sei eine schriftliche Entscheidung notwendig, eine bloß mündliche reiche nicht. Man versuche die Anhörung des Betroffenen im Beisein eines Verfahrenspflegers zu gewährleisten.

Krender-Sonnen von der Neuen Richtervereinigung sagte, man müsse Kenntnisse und fähige Verfahrenspfleger fördern. Die Fixierung sei ein zusätzlicher Eingriff, der fraglos einen Richtervorbehalt brauche.

RA Kilger vom Deutschen Anwaltsverein sprach sich in dubio pro reo für den Richtervorbehalt aus.

Siehe auch hier: https://www.zwangspsychiatrie.de/2018/01/psychiatrische-fixierung-anhoerung-beim-bverfg